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Wertschätzende Führung als Erfolgsfaktor und Herausforderung

 

In den letzten 100 Jahren hat sich unser Verständnis von „Mensch und Arbeit“ in Organisationen kontinuierlich weiterentwickelt. Es wurden tausende von Studien durchgeführt, um den Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen und -ergebnissen zu untersuchen.Einen kleinen Aufschrei oder zumindest ein Zusammenzucken verursachten Thomas Fischer und Kollegen Anfang des Jahres mit ihrem wissenschaftlichen Artikel „A fatal flaw: Positive leadership style research creates causal illusions“ in dem sie aufzeigten, dass in vielen wissenschaftlichen Studien das Führungsverhalten gar nicht so gemessen wird, wie von den Wissenschaftlern angestrebt (Fischer 2024).

Im Kern geht es darum, dass Mitarbeiter, wenn sie nach dem Führungsverhalten ihrer Vorgesetzten befragt werden, dieses Führungsverhalten nicht objektiv beschreiben können, wie es zum Beispiel ein professioneller und objektiver Arbeitspsychologe tun würde. Vielmehr beschreiben sie ein subjektiv wahrgenommenes Verhalten, das von dem objektiven Verhalten teils deutlich abweichen kann.

In vielen Studien wurde also statt des Zusammenhangs zwischen tatsächlichem Führungsverhalten und Arbeitsergebnisse der Zusammenhang zwischen subjektiv erlebtem Führungsverhalten und Arbeitsergebnissen gemessen.

Was für viele Wissenschaftler und ihre Veröffentlichungen eine unangenehme Erkenntnis ist, zeigt sich für die Praxis als äußerst hilfreich:

„Es kommt auf das subjektive Empfinden der Geführten an.“

Das heißt, die positiven Effekte von wertschätzender Führung treten nicht ein, wenn die Führungskraft oder ein neutraler Beobachter das Führungsverhalten als wertschätzend wahrnehmen, sondern nur, wenn die Geführten es so erleben.

Wovon hängt es ab, ob Geführte ein konkretes Führungsverhalten als wertschätzend empfinden?

Zunächst spielt die Persönlichkeit der Geführten eine große Rolle: z.B. tendieren sensiblere Menschen dazu, eher Geringschätzung in Verhaltensweisen hineinzuinterpretieren und fühlen sich schneller verunsichert als weniger sensible Menschen.

Auch Sozialisation erklärt viele Unterschiede in der Wahrnehmung. In Abhängigkeit vom eigenen Referenzrahmen werden Verhaltensweisen als wertschätzend, neutral oder geringschätzend wahrgenommen. Dies zeigt sich zum Beispiel in Branchen- aber auch in Generationenunterschieden. Im Maschinenbau werden andere Verhaltensweisen als (noch) wertschätzend wahrgenommen als in der Softwareentwicklung. Und viele Menschen der jüngeren Generationen benötigen andere Signale, um sich wertgeschätzt zu fühlen als Menschen aus den älteren Jahrgängen.

Der dritte wesentliche Faktor für die Wahrnehmung des Führungsverhaltens sind Annahmen über die Führungskraft als Person. Dabei entsteht ein iterativer Verstärkungsprozess. Wenn sich einmal eine bestimmte Annahme gefestigt hat (z.B. „Die Führungskraft ist wohlwollend“) – sei es durch eigenes Erleben oder kolportierte Anekdoten von Kollegen – wird auch zukünftiges Führungsverhalten eher so bewertet.

Welche Verhaltensweisen müssen Mitarbeiter bei ihren Führungskräften beobachten, um sich wertgeschätzt zu fühlen?

Der Vorwurf von „fehlender Wertschätzung“ oder die Forderung nach „mehr Wertschätzung“ muten manchmal wie ein Klassenkampf oder Generationenkonflikt an, in dem es nicht um konstruktive Lösungen, sondern Machtdemonstration oder Verhandlungsstrategien geht.

Sowohl der theoretischen Forschung aber auch in der Praxis hat es sich bewährt, den Begriff der Wertschätzung bzw. der wertschätzenden Führung zu dekonstruieren und in kleinere, weniger abstrakte Komponenten zu zerlegen.

Allgemein lässt sich wertschätzende Führung als ein Führungsstil beschreiben, der darauf abzielt, die Geführten als Menschen zu respektieren, ihre Beiträge anzuerkennen und eine positive, unterstützende Arbeitsatmosphäre zu schaffen.

Die zentrale Botschaft von wertschätzender Führung ist „Du als Individuum wirst hier gebraucht“.

Dieser Ansatz hat nicht unbedingt etwas mit Höflichkeiten zu tun, sondern konzentriert sich darauf, zu zeigen, dass die individuellen Fähigkeiten, das Engagement und die Bedürfnisse der Mitarbeiter zur Organisation passen.

Wesentliche Merkmale wertschätzender Führung:

    1. Wertbeitrag bestätigen
      Führungskräfte zeigen aufrichtiges Interesse an den Leistungen und der Entwicklung ihrer Mitarbeiter. Sie erkennen gute Arbeit an, bemerken konkrete Erfolge und lassen die Mitarbeiter spüren, dass ihre Beiträge nützlich sind. Es geht darum, Mitarbeiter als wertstiftende Individuen zu sehen.
    2. Perspektiven verstehen
      Wertschätzende Führungskräfte zeigen Einfühlungsvermögen. Sie zeigen Interesse an den persönlichen Umständen, Herausforderungen und Wahrnehmungen ihrer Mitarbeiter. Führungskräfte hören aktiv zu und ermutigen Mitarbeiter dazu, ihre Meinungen zu äußern. Sie fördern den Dialog und schaffen ein Umfeld, in dem Ideen und Bedenken offen geteilt werden können.
    3. Sinnvolle Partizipation ermöglichen
      Eine wertschätzende Führungskraft bindet ihre Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse ein, wo immer es möglich ist. Sie schafft damit die Gelegenheit, dass die Mitarbeiter selbst gestalten und entscheiden können.
    4. Entwicklung unterstützen
      Mitarbeitende möchten sich weiterentwickeln, und wertschätzende Führungskräfte unterstützen dies aktiv. Sie bieten Chancen, neue Herausforderungen zu meistern und Fähigkeiten zu erlernen. Gegebenenfalls unterstützen sie mit konstruktivem Feedback und weiteren Ressourcen.

Was passiert, wenn Mitarbeiter sich wertgeschätzt fühlen?

Aus tausenden von Studien wissen wir, dass wenn Mitarbeiter bei ihren Führungskräften Verhaltensweisen wahrnehmen, die sie als wertschätzend empfinden, sich typischerweise diverse positive Effekte zeigen.

Effekte wertschätzender Führung:

    • Geringere Krankenstand: Mitarbeiter, die sich wertgeschätzt fühlen, sind seltener krank. Das gilt insbesondere für psychische aber auch für physische Erkrankungen.
    • Geringere Fluktuation: Mitarbeiter, die das Gefühl haben, ihre Fähigkeiten sinnvoll einbringen zu können und einen wichtigen Beitrag zu leisten, wechseln eher nicht das Unternehmen.
    • Höheres Engagement: Mitarbeiter, deren Wertbeitrag gesehen wird, sind eher bereit sich über das geforderte Mindestmaß hinaus einzubringen.
    • Verbesserte Zusammenarbeit: Wenn Mitarbeiter das Gefühl haben, selbst einen sicheren Platz in der Organisation zu haben, kooperieren sie eher mit anderen und es ist unwahrscheinlicher, dass sie destruktive Verhaltensweisen zeigen.
    • Offenere Kommunikation: Mitarbeiter, die das Gefühl haben, dass ihre Beiträge wertgeschätzt werden, sind eher bereit auf (eigene) Fehler hinzuweisen oder proaktiv Vorschläge zu machen.

Auf den ersten Blick mag sich hier ein Henne-Ei-Problem zeigen und die ein oder andere Führungskraft mag antworten „Wenn meine Mitarbeiter weniger krank, länger dabei, engagierter, kooperativer und kommunikativer wären, dann fiele es mir auch leichter, Wertschätzung zu zeigen“. 

Das mag stimmen. Und gleichzeitig wusste schon Johann Wolfgang von Goethe sinngemäß

„Behandle die Menschen, als wären sie, was sie sein sollten, und du hilfst ihnen zu werden, was sie sein können“ (Goethe 1795)

Und es gibt auch wissenschaftliche Studien, die den sogenannten Rosenthal- oder Pygmalioneffekt bestätigen (Jussim 2005), der besagt, dass die Erwartung einer relevanten Autoritätsperson an die Leistung eines Probanden die tatsächliche Leistung beeinflusst. Es handelt sich also vielfach um eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Was kann man als Führungskraft tun?

Um das volle Potenzial der Mitarbeiter nutzen zu können, müssen Führungskräfte sich Verhaltensweisen angewöhnen, die von den Mitarbeitern als wertschätzend empfunden werden. Die große Herausforderung besteht darin, dass durchaus große individuelle Unterschiede hinsichtlich der Erwartungen an wertschätzende Führung bestehen können. Wobei sich auch Mitarbeiter häufig nicht im Klaren darüber sind, was sie als wertschätzend empfinden werden. Häufig drehen sich Diskussionen dann um Vergütung, Titel oder andere Annehmlichkeiten. Diese sorgen meist aber nur sehr kurzzeitig für eine Gefühl der Wertschätzung. Die bessere Alternative ist, die Mitarbeiter nach ihrem persönlichen Empfinden bezüglich der oben genannten Merkmale zu fragen:

z.B. „Hast Du das Gefühl, dass ich Deine Leistungen und Wertbeiträge sehe und angemessen würdige?“

oder

 „Hast Du das Gefühl, die Dinge entscheiden zu dürfen, die Du sinnvollerweise selbst entscheiden können solltest?“

Solche Fragen erlauben es die Diskussion von vagen und abstrakten Begriffen wie „fehlende Wertschätzung“ hin zu konkreten Beispielen zu führen. Gleichzeitig zeigen solche Fragen schon das ernsthafte Interesse der Führungskraft.

Sollte sich bereits ein Gefühl der fehlenden Wertschätzung oder gar der Geringschätzung über einen längeren Zeitraum etabliert haben, wird dieser Prozess aufwendiger und langwieriger.

Gegebenenfalls kann es sinnvoll sein, der Führungskraft in Trainings einen sicheren Raum zu geben, in dem sie neue Interaktionsstrategien ausprobieren kann. Zusätzlich können kollegiale Fallberatung oder Mentoren Führungskräften dabei helfen, ihr eigenes Führungsverhalten zu reflektieren und anzupassen.

Auch Mitarbeiterbefragungen oder Teamfeedbacks können geeignete Instrumente sein, um Klarheit über das Mitarbeitererleben zu bekommen. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass diese Befragungen nicht unbedingt Auskunft über das tatsächliche Führungsverhalten geben, sondern vielmehr darüber, wie das Führungsverhalten von den Mitarbeitern wahrgenommen wird.

Als Führungskraft kann man nur ins Risiko und in Vorleistung gehen. Das ist der einzige Weg, um ein Umfeld zu schaffen, in dem die Mitarbeiter ihr volles Potenzial entfalten können.  

Fischer, Thomas & Dietz, Joerg & Antonakis, John. (2024). A fatal flaw: Positive leadership style research creates causal illusions. The Leadership Quarterly. 101771. 10.1016/j.leaqua.2023.101771.

von Goethe, Johann Wolfgang (1795). Wilhelm Meisters Lehrjahre

Jussim, L., & Harber, K. D. (2005). Teacher Expectations and Self-Fulfilling Prophecies: Knowns and Unknowns, Resolved and Unresolved Controversies. Personality and Social Psychology Review, 9(2), 131–155

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